Ein Kleiderschrank für alle

Der Laden von Soile-Maria ist wie ein großer Kleiderschrank. Jeder darf sich an den Kleidern bedienen.

Dieses Erlebnis wird Soile-Maria Linnemäki nie vergessen. Sie war in Elternzeit, konnte endlich mal ihren Kleiderschrank sortieren. Sie machte drei Stapel: einen mit Hosen, Röcken, Kleidern, die sie noch tragen kann; einen mit Kleidung zum Weitergeben; und einen letzten mit nicht mehr brauchbaren Klamotten. Und dieser Stapel wurde immer größer.

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Das war vor sechs Jahren. Die dreifache Mutter hatte das Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann und erinnerte sich an eine Kleiderbibiothek, die es früher in der Gegend gab. Zwei finnische Journalisten hatten die Idee in Schweden gesehen. Das Konzept hatte sich damals aber nicht durchgesetzt. Soile-Maria ließ der Gedanke keine Ruhe. Warum muss man so viel Kleidung selbst besitzen? Wäre es nicht viel nachhaltiger, wenn Kleider, Schuhe und Co von allen genutzt werden können? Und hätte dadurch nicht jeder am Ende mehr Auswahlmöglichkeiten, wenn der gemeinsame Kleiderschrank viel größer als ein eigener ist? So belebte Soile-Maria in ihrer Heimatstadt Järvenpää die alte Idee aus Schweden und eröffnete Vaatepuu, zu deutsch: Kleiderbügel.

 Statt günstiger, schnell und nicht nachhaltig produzierter „Fast Fashion“ sollten nur hochwertige finnische und nordische Designerstücke auf den vaatepuus hängen. Qualität, die ihren Preis hat – und trotzdem von allen genutzt werden kann, weil man die Kleidung nicht kauft sondern nur ausleiht. Das Prinzip: Mitglieder von Vaatepuu borgen Kleider wie Bücher in einer Bücherei. Nach zwei Wochen müssen sie wieder zurückgebracht werden. Jedes Kleidungsstück und Accessoire ist eine bestimmte Punktzahl wert und je nach Mitgliedschaft für 150 bis 280 Euro pro Halbjahr können Mitglieder entsprechend viel Kleidung ausleihen. „So wird jedes Kleidungsstück hier möglichst häufig getragen“, schwärmt Soile-Maria. Im Idealfall sind die unterschiedlichen Kleidungsstücke ständig ausgeliehen und hängen möglichst selten im gemeinsamen Kleiderschrank in Järvenpää.

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Soile-Maria ist überzeugt, dass ihr Ansatz die Produktion neuer Kleidungsstücke reduziert. Denn die Zahlen alarmieren sie: Zwischen den Jahren 2000 und 2014 hat sich die weltweite Kleiderproduktion laut Studien verdoppelt. Kunden haben im selben Zeitraum 60 Prozent mehr Textilien gekauft, behielten sie aber nur halb so lange wie noch vor 15 Jahren.
Mit Vaatepuu will die 38-Jährige den Gegentrend setzen. Nicht nur in Järvenpää, wo sie mittlerweile mehrere hundert Mitglieder hat. Auch in Finnlands Hauptstadt Helsinki hat Soile-Maria eine Kleiderbibliothek geöffnet. Das schwarze Logo mit den weissen Vaatepuu-Buchstaben und dem Kleiderbügel-Logo in Herzform schmückt heute den Eingang von Geschäften in fünf finnischen Städten.

Drei gehören ihr selbst, bei zwei weiteren probiert sie gerade ein Franchise-System. „Durch unsere einzelnen Filialen können wir noch nachhaltiger sein, denn einzelne Kollektionen tauschen wir hin und her“, sagt Soile-Maria. „Wenn sich die Mitglieder in Järvenpää an etwas satt gesehen haben, freuen sich die Menschen in Helsinki vielleicht über die neue Kollektion.“
Wer hinter den jeweiligen Kleidungsstücken steckt, weiß Soile-Maria ganz genau. Sie kennt alle Designer, von denen sie Kleidung hat. Immer wieder trifft sie sich, um über neue Kollektionen zu sprechen. Mit Designerin Anne-Mari Pahkala hat sich über die Jahre gar eine enge Freundschaft entwickelt. Das kann auch Vorteile haben, zum Beispiel wenn man plötzlich selbst ein schönes Abendkleid braucht.

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Kleidungsstücke zu teilen ist eine besondere Philosophie, die ein Umdenken erfordert. Aber, da ist Soile-Maria sich sicher: Es ist besser, als andauernd neue Kleidung zu kaufen. Auch wenn die Verlockung der Fast-Fashion-Modeketten groß scheint: Teilweise mehr als 20 neue Kollektionen landen in den Verkaufsregalen von H&M, C&A, Zara und Co. Jährlich! 2014 wurden pro Erdenbürger 14 neue Kleidungsstücke auf den Markt gebracht. Das sind 100 Milliarden Textilien! Schnelle Kleidung, für den Moment produziert.

Soile-Maria geht es um mehr. Die Mitglieder sollen sich bei Vaatepuu wohl fühlen. Leise, moderne Popmusik säuselt aus einem Lautsprecher. Eine Mitarbeiterin sortiert und kontrolliert Kleidung, die gerade zurückgebracht wurde. Es wird viel gelacht und jeder wird mit einem lauten „Moi“ begrüßt. Soile-Maria kann in Järvenpää eine Person in Vollzeit beschäftigen und den Laden dienstags bis samstags öffnen. Sie selbst steht selten hinter dem Tresen. Ihr liebster Arbeitsplatz ist trotzdem in der Bibliothek. In einer Ecke.

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Soile-Maria ist oft mit dem Auto unterwegs; zum Beispiel zwischen Järvenpää und dem knapp 40 Kilometer entfernten Helsinki. „Ja, ich weiß, das ist nicht ganz nachhaltig“, sagt sie, als sie auf die Autobahn in Richtung Hauptstadt abbiegt. „Ich könnte vielleicht auch Busse und Bahnen nutzen. Aber wenn wir Kleider hin und her fahren, ist das nicht so einfach möglich.“ Dafür werden die einzelnen Kleidungsstücke aber noch häufiger getragen. 100 bis 200 Ausleihen seien keine Seltenheit. Die Kunden müssen die Anziehsachen vor Rückgabe selbst waschen. Mit Tipps für den richtigen Umgang könne die Lebensdauer nochmals verlängert werden.

Aber die perfekte Lösung ist auch das Vaatepuu nicht. Eine im „Journal of cleaner production“ veröffentlichte Studie aus dem Jahr 2017 kommt zu dem Ergebnis, dass Konzepte wie das von Soile-Maria nur funktionieren, wenn Kunden nicht zu weit zum Geschäft fahren müssen. Sonst wird zwar die Lebensdauer von Kleidungsstücken erheblich verlängert und es müssen weniger neue Teile wasser- und pestizidintensiv produziert werden. Wenn Kunden aber zu weit zur Bibliothek fahren müssen oder der Standort nicht gut gewählt ist, ist die Öko-Bilanz am Ende wieder schlecht. Auch deswegen denkt Soile-Maria immer wieder darüber nach, wie das Konzept verbessert werden kann und wohin die Reise des gemeinsamen Kleiderschranks geht.

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