Hinterland

Im hohen Norden Finnlands sind die Menschen auf das Auto angewiesen. Umweltfreundliche Politik aus dem Süden macht ihnen zu schaffen.

Eine Verkehrswende scheint in urbanen Räumen manchmal zum Greifen nah. Auf dem Land sieht die Realität jedoch anders aus. Wer in Lappland, der größten Region Finnlands, lebt, kann noch so naturverbunden sein – ohne Auto ist das Leben nördlich des 65. Breitengrades nicht zu stemmen.

Ein schmaler Feldweg führt zu dem grauen Holzhaus, das sich über dem Ufer eines kleinen Flusses erhebt. Hier, im finnischen Sonka, lebt Kaisa Heiskari mit ihrem Mann Heikki und ihrer fünfjährigen Tochter Siiri. Das Dorf wirkt eher wie ein loser Zusammenschluss einzelner Landhäuser und Höfe – besonders für deutsche Besucher, die an Neubaugebiete und Wendehammer gewöhnt sind.

Meist ist der nächste Nachbar über 500 Meter entfernt, nur am Abend lassen sich die Grundstücke durch das diffuse Licht der Außenbeleuchtung, das schwach durch die Bäume strahlt, erkennen.

Kaisa arbeitet beim Stadtmarketing in Rovaniemi, der selbsternannten “Heimatstadt des Weihnachtsmannes”. Ihr Mann ist Wachmann und Hundetrainer an der langen Grenze Finnlands zu Russland, etwa 200 Kilometer von Sonka entfernt. Um zur Arbeit zu gelangen, fährt Kaisa täglich die 30 Kilometer mit dem Auto in die Stadt. Der Kindergarten ihrer Tochter liegt auf dem Weg.

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Lappland nimmt nahezu ein Drittel des finnischen Staatsgebiets ein.

Kaisa, Heikki und Siiri leben für lappische Verhältnis relativ südlich und nah an der Hauptstadt der Region, Rovaniemi. Die makkunta (Bezeichnung der finnischen Regionen, ehemals Provinzen, Anm. d. Red.)  Lappland hat eine Fläche von 98.982 Quadratkilometern, nimmt nahezu ein Drittel von Finnlands Staatsgebiet ein. Nur knapp zwei Menschen bewohnen einen Quadratkilometer Land. Zum Vergleich: In Deutschland sind es im Durchschnitt 232.

Die dünn besiedelte Region liegt größtenteils nördlich des Polarkreises und ist von Wäldern durchzogen, deren Bäume im Vergleich etwas kleiner sind als im Süden des Landes. Die harschen klimatischen Bedingungen begrenzen die Wachstumszeit stark.  Auf dem Weg zur Arbeit sieht Kaisa häufig Rentiere auf den Wiesen um Sonka, die jetzt im Oktober die letzten Strahlen der Herbstsonne genießen. Bald wird es nicht mehr hell werden.

Geborgenheit, nicht Einsamkeit.

Die Polarnacht, kaamos, dauert 51 Tage an. Von November bis Februar legt sich ein dunkler Schleier über die Landschaft, so empfindet es Kaisa zumindest.
Doch sie stört sich nicht daran – im Gegenteil. Wer in Lappland in das Gebiet außerhalb der wenigen, kleinen Städte zieht, fällt die Entscheidung bewusst. Und weiß im Umkehrschluss, dass ohne eigenes Transportmittel die Außenwelt nicht direkt  vor der Haustür zu finden ist.

Für die Heiskaris bedeutet das zurückgezogene Leben im Wald Geborgenheit, nicht Einsamkeit. Sie haben sich ein Nest geschaffen, haben buchstäblich viele Arbeiten beim Hausbau selbst verrichtet. Einen Ort gefunden, an dem sie beide zur Ruhe kommen können, nachdem sie den Tag über unterwegs waren, an dem ihre Tochter am kleinen Fluss spielen kann und weiß, dass das Heimat ist.

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In der Großstadt fällt der Verzicht auf ein eigenes Auto leicht. Mit U-Bahn, Tram und Bus kommt man ohne Probleme an sein Ziel. Das problemlose, gar leichtfertig in den Tagesablauf eingeplante Unterwegssein – es bestimmt den Pulsschlag vieler europäischer Großstädte, in Berlin und Helsinki gleichermaßen.

Eine Abkehr oder gar ein Verbot des umweltschädlichen Individualverkehrs scheint in diesen Räumen erstmals realistisch denkbar: dank eines vielschichtigen öffentlichen Nahverkehrs und Angeboten wie Leihrädern und Elektro-Carsharing-Flotten. Der Klimawandel befördert die Bemühungen.

Wenn die Tram alle paar Minuten kommt, braucht man natürlich kein Auto.

Heikki Heiskari

Arbeiten, einkaufen, Freunde treffen – ohne Auto sind die Entfernungen einfach zu groß.

Doch dort, wo urbane Transportnetze fern sind, sind Dorf- und Kleinstadtbewohner mehr denn je auf das eigene Auto angewiesen. Der nächste Arzt, der nächste Supermarkt oder Kindergarten – alles scheint ohne Kraftfahrzeug unerreichbar. Das gilt für Flächenländer wie Brandenburg oder Baden-Württemberg, doch auf viel dramatischere Weise für Lappland, die nördlichste finnische Region. Arbeiten, einkaufen, Freunde treffen, ein Leben führen – das ist für den Großteil der Bevölkerung hier ohne Auto nicht möglich. Die Entfernungen sind einfach zu groß.

Zugleich ist öffentlicher Nahverkehr rar. Bis September fuhr in Sonka einmal täglich der Bus vorbei. Er wurde in den letzten Monaten vor der Einstellung der Linie nur von einem einzigen Passagier genutzt. Die Abfahrt um 8 Uhr morgens war für Kaisa und Heikki zu spät. Und nicht gerade praktikabel, wenn man noch ein Kind zum Kindergarten bringen muss. “Der Bus wartet natürlich nicht auf mich, wenn ich Siiri absetze. Und einen späteren, bei dem ich wieder einsteigen könnte, gab es ja nicht”, erzählt Kaisa achselzuckend.

Mit dem Taxi zur Schule.

Ab Rovaniemi kann man mit dem Bus in andere lappische Städte fahren, nach Kittilä, Sirkka oder Inari. Um zur Arbeit zu kommen oder gar Alltagsdinge zu erledigen, nützen die Fahrpläne jedoch wenig. Das zeigt sich auch an der Menge der Passagiere: Den Bus von Rovaniemi nach Sonka nutzte in den letzten Monaten vor der Einstellung nur ein einziger Fahrgast. Ab nächstem Jahr, wenn Siiri die Vorschule besucht, wird sie wie alle Schulkinder aus den ländlichen Regionen von einem privaten Taxi zum Schulzentrum in Sinettä gebracht. Tatsächlich sei diese Lösung effizienter und günstiger als ein Schulbus, sagt Heikki.

In Finnland pendeln rund 41 Prozent der 2,3 Millionen Arbeitnehmer für den Job von einer Gemeinde in eine andere. Besonders das Einzugsgebiet um Helsinki und Espoo ist eine Hochburg des Hin- und Herfahrens zwischen Arbeitsplatz und Wohnort.

Der Anteil der Pendler in Lappland fällt statistisch kleiner aus, obwohl viele außerhalb der städtischen Gebiete wohnen und dadurch einen nicht unerheblichen Arbeitsweg zurücklegen.

Das ist der finnischen Verwaltung geschuldet: Die Gemeinden in Lappland sind flächenmäßig weit größer als anderswo. Während Rovaniemi eine Fläche von rund 8.000 Quadratkilometern umfasst, breitet sich die Verwaltungseinheit Helsinki auf nur 765 aus. Nur wer seine Gemeinde auf dem Weg zur Arbeit verlässt, wird überhaupt als Pendler erfasst.

Während im Süden des Landes viele Pendler die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, um Strecken bis zu 100 oder gar 200 Kilometer zurückzulegen, ist man in Lappland oder auch im Osten Finnlands auf das Auto angewiesen.

Rund 41 Prozent der Finnen pendeln zur Arbeit in eine andere Gemeinde.

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Würde ein Politiker sich lediglich die nackten Zahlen anschauen, so könnte er Menschen wie Kaisa und Heikki leicht vergessen. Zwar legen sie in den Einzugsgebieten von Rovaniemi oder Inari täglich lange Strecken zurück, um nicht von gesellschaftlichem Leben, Arbeit und Versorgung abgeschnitten zu sein – doch als Pendler gelten sie in der Statistik nicht.

Doch nicht nur die offiziellen Daten bilden eine verzerrte Wirklichkeit ab, die den Menschen in Lappland weniger Relevanz verleiht. Die Region hat auch keine politische Lobby: Während ein kleiner Wahlkreis wie Uusima 35 Abgeordnete hat, werden lappische Interessen im finnischen Parlament nur von sieben Politikern vertreten.


Mit einem Elektroauto kommt man in Lappland nicht weit.

Wenn man wie Familie Heiskari ein Zuhause in Lapplands Wäldern baut, dann ist ein gewisses Maß an Naturverbundenheit fast schon Pflicht. Dass eine emissionsfreie oder zumindest klimafreundlichere Mobilität in Dörfern wie Sonka jedoch nicht möglich ist, ist der harte Kontrast zum entschleunigten, an die Natur angepassten Leben. Es ist ein Dilemma, worüber Kaisa und Heikki viel nachdenken: Natürlich wollen sie ihre Umwelt, ihr Nest schützen. Doch ihr Leben wird nun einmal vom Auto angetrieben.

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Wir fahren ja nicht zum Spaß zwei Autos – sondern weil wir sie wirklich brauchen.

Kaisa Heiskari

Dass sie mit zwei in die Jahre gekommenen Autos ständig unterwegs sind, macht den Heiskaris ein schlechtes Gewissen.
Doch nicht nur die Auswirkungen auf die Umwelt sind für sie Grund zur Sorge. Die finnische Regierung strebt derzeit eine Verkehrswende für alle Regionen des so unterschiedlichen Landes an.
Sowohl der Besitz und Gebrauch eines Pkws, als auch die Tankfüllung sollen teurer werden – durch höhere und von der Emissionsmenge abhängige Steuerabgaben.
Das soll die Bürger nicht nur anregen, weniger Auto zu fahren, sondern auch weniger eigene motorisierte Vehikel zu besitzen.

Das allein würde schon relativ hohe Mehrkosten verursachen für Menschen wie Kaisa und Heikki, die beide Fahrzeuge älteren Baujahres fahren.
Doch es gibt noch mehr Steuervorhaben, die das Leben mit zwei Autos zu einem finanziellen Risiko für die kleine Familie machen könnten. Beispielsweise plant die Regierung in Helsinki, die Pendlerpauschale für Autofahrer drastisch zu kürzen.
Dass die Kfz-Steuer nun für beide Fahrzeuge um circa 40 Prozent steigen könnte, bedroht die finanzielle Sicherheit der Familie real. Manchmal raubt der Gedanke daran ihnen den Schlaf – und lässt sie sich fragen, wann die Politik auch mal an Lappland denkt.
Wie lange werden die Heiskaris diese Last tragen und gleichzeitig ihr geliebtes Haus unterhalten können? Die Antwort ist ernüchternd: Sie wissen es nicht.