Ein Rentier rennt
Ein Besuch bei Züchtern, die nicht aufgeben wollen - trotz wachsender Probleme
Dank des Weihnachtsmannes kennt jedes Kind die finnischen Rentiere. Doch ihr Lebensraum ist bedroht: durch den Klimawandel, durch die Nachfrage nach arktischem Öl und auch durch die Politik.
Von Maren Jensen und Björn-Hendrik Otte
Rovaniemi – Die Zeiten für Rentierzüchter im Norden Finnlands waren schon mal besser. Viele haben in den vergangenen Jahren aufgegeben, sind in den Süden gezogen, in Großstädte wie Helsinki oder Tampere. Zu den wenigen, die weiterkämpfen, gehören Kyösti Uutela und Pekka Korpela. In einem Waldstück bei Kemijärvi haben die beiden Farmer an diesem Tag mit rund 20 anderen Züchtern 400 Rentiere für das jährliche „Round-up“ zusammengetrieben. Hier wird entschieden, welche Tiere zurück in die Natur dürfen und welche ihr Lebensende auf dem Schlachthof finden werden.
Mit einem Lasso fangen die Männer zunächst die dominanten Prachthirsche ein und lassen sie zurück in die Natur. Sie sollen sich weiter fortpflanzen. Die schwächeren und fetten Rentiere werden nach Züchtern sortiert und für die schnellstmögliche Schlachtung vorbereitet. Dabei soll möglichst nichts unverarbeitet bleiben. Die Felle werden zu Handschuhen oder Mützen gefilzt, das Fleisch wird in großem Umfang in ganz Finnland verkauft und in andere Länder exportiert. Das Geweih wird teilweise zu einem Pulver verarbeitet, das aphrodisierende Wirkung haben soll und hauptsächlich auf dem chinesischen Markt große Abnehmer findet.
Alle Tiere tragen als Erkennungszeichen ein buntes Halsband oder eine Marke am Ohr. Eines der jüngeren Tiere ist noch nicht gekennzeichnet. Es rennt hektisch im Gehege hin und her. Uuutela packt es bei den Hörnern und zerrt das Tier in die Mitte des Geheges. Es kommt zu einer schnellen Auktion „450 Euro“ ruft einer der Farmer, „470“, ruft ein anderer. Zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Verkauft.
Die Rentierzucht ist für viele der knapp 140.000 Sami im Norden Schwedens, Norwegens, Finnlands und Russlands nicht nur ein Job. Es ist eine Lebenseinstellung.
Anne Ollila, Vorsitzende der Rentier-Vereinigung Finnlands, kämpft seit Jahren mit den Sami gegen die industriellen Vorhaben der Regierung. Denn auch sie kommt aus einer Familie, in der Rentierzucht nicht nur seit mehr als 500 Jahren die Existenz bestimmt, sondern auch dessen Traditionen und Werte.
Einen Züchter zu fragen, wie viele Rentiere er hat, ist demnach ähnlich charmant wie nach dem Kontostand zu fragen. Nach Schätzungen leben aber etwa eine halbe Million Rentiere in Finnlands nördlichen Wäldern, verteilt auf 4000 Züchter in den jeweiligen Distrikten. Damit die Tiere nicht nach Russland oder Norwegen abwandern, hat die Rentier-Vereinigung Zäune aufgestellt.
Größere Sorgen als die Abwanderung bereitet den Züchtern jedoch der Klimawandel. Statt Schnee kommt Regen, was die Bodenfläche vereist und Futter damit unzugänglich macht. „Vor ein paar Jahren hat die Erde bereits unter dem vereisten Boden geschimmelt, sodass die Tiere nichts zum Fressen fanden. Wenn das so weitergeht, wird es sehr teuer, auch weil wir die Tiere zusätzlich füttern müssen“, sagt Rentierzüchter Kyösti Uutela. Auch Insekten und Parasiten werden durch die Erwärmung aus dem Süden angelockt. Sie können sich in der Wärme leichter vermehren und fallen auch die Rentiere an. Die Tiere der Züchter bekommen deshalb im jährlichen „Round-up“ eine neue Impfung, wenn sie zurück in die Freiheit entlassen werden.
In der Arktis, überhaupt im Norden Finnlands, steigen die Durchschnittstemperaturen seit Jahren deutlich schneller als in anderen Teile der Erde. Ein einzigartiges Ökosystem könnte damit unwiederbringlich verloren gehen, sagt Sari Stark. Die Geologin arbeitet in der Klimawandelteam des Arktikums, einem Umwelt-Forschungsinstitut in Rovaniemi, der Heimat des Weihnachtsmannes. Ihr Büro liegt in dem sandsteinfarbenen Gebäude, aus dessen Mitte ein mehr als 170 Meter langes Glasgewölbe emporragt. Das Tor zur Arktis, sagt der Architekt. Laut Stark sind durch den Klimawandel bereits zahlreiche Insektenarten in den vergangenen 20 Jahren immer weiter in den sich erwärmenden Norden gewandert. „Neuerdings haben wir besipielsweise ein Zeckenproblem“, sagt die Arktisexpertin.
Und auch die Nahrung wird für die Tiere im Zuge des Klimawandels schwerer zugänglich. „Dass wenige Rentiere den harten Winter nicht überleben, weil sie verhungern, kommt vor“, sagt Züchter Pekka Korpela. Aber dass die Tiere aufgrund des vermehrten Regens und damit auf vereisten Boden, statt auf Schnee treffen, sei neu. Die Nahrungssuche werde damit immer komplizierter – vor allem für die männlichen Tiere, die ihr Geweih im Winter verlieren. Sie kommen durch die Eisschicht nicht durch. Das Weibchen muss einspringen. Auch Ollila beobachtet dieses Problem seit Jahren.
Hilfe aus der Politik zu bekommen haben die Züchter schon längst aufgegeben. Mehr als 30 Jahre ist es her, dass die Vereinten Nationen durch eine neue Vereinbarung die Rechte indigener Völker und damit auch die Flächen der Rentiere schützen wollten. Auf die tatsächliche Umsetzung warten Züchter wie Korpela oder UUtela jedoch immer noch. Bisher hat sich erst rund jeder sechste UN-Mitgliedstaat für den Vorschlag ausgesprochen. Finnland selbst ist nicht darunter. Der Grund ist finanzieller Natur. Zu groß sind die wirtschaftlichen Interessen des Staates. Neben Öl lagern im Norden Finnlands nämlich nach Erkenntnissen von Geologen die größten Erzvorkommen der Welt: Kupfer, Nickel, Uran und auch Gold, in einer der größten Minen Europas, nur wenige Kilometer entfernt von den Rentierweiden in Kittilä.
Dem staatlichen schwedischen Bergbaukonzern LKAB in Kiruna gehört eine der größten Erzminen des Gebiets. Das Unternehmen ist dabei, neue Minen zu erschließen und seine Produktion um 35 Prozent auszuweiten. Aber anstatt das Erz nach Süden zu schaffen, blickt das Unternehmen weiter nördlich, zur Arktis. Die Lösung für den zukünftig geplanten Export soll deshalb eine Bahnstrecke quer durch Lappland sein. Bisher endet die Eisenbahn noch in Rovaniemi. Aber eine neue Strecke nach Sodankyla soll schon bis 2020 fertiggestellt sein.
Noch sind die Schienen nur in den Marketingvideos der Industrie real, doch viele Rentierzüchter sind alarmiert und rufen zum Handeln auf. Sie zelten und blockieren seit Jahren die geplante Strecke, teilweise wochenlang in der Kälte. Auch die neue Mine in Pajala nahe der finnischen Grenze, die 2013 ihre Produktion aufnahm, könnte an diese Strecke andocken. Importe und Exporte zwischen Asien und Europa könnten damit in Zukunft noch einfacher werden Die UN-Konvention liegt also vorerst auf Eis.
Viele Rentierzüchter sehen in der Verweigerungshaltung der Regierung den Versuch, ihren Lebensunterhalt zu begrenzen, um mit der Industrie Profit zu machen. Die Schienen würden nämlich nach aktuellen Planungen quer durch das Weideland der Tiere verlaufen. Und so hoffen allein in Finnland die offiziell rund 9500 Sami und Rentierzüchter noch auf eine existenzsichernde Lösung. „Die Industrie braucht viel Platz, aber die Rentiere auch. Hier ist eine ganze Lebensart in Gefahr“, sag Ollila. Gemeinsam mit den Sami versucht sie derzeit einen Kompromiss mit der Regierung auszuhandeln.
Doch der Schnee kommt bereits jetzt immer später. Und er geht auch immer früher. Das Rentier rennt also. Gegen die Zeit.